Hallo,
die Frage der Software ist definitiv ein zentrales Thema. Sie war in meinen Augen in der Vergangenheit die größte „Bremse“ für unser Projekt, die uns in anderen Themen immer wieder stark beschränkt hat. Da das Thema so wichtig ist und bisher zu wenig von uns dazu kam, wird mein Hintergrundbeitrag leider wieder etwas länger.
Allgemein zur Größenordnung:
Wir bauen mit Fairmondo keinen Webshop, sondern einen Marktplatz mit multiplen, professionellen Verkäufern, was es zu einer sehr viel komplexeren Aufgabe macht. Der größte Teil der vielen existierenden Lösungen (open source oder nicht) ist für Webshops entwickelt. Auch ein solcher kann schnell komplex und teuer werden, wenn es spezifische Anforderungen gibt. Monagoo z.B. (ein mittlerweile insolventer Shop für nachhaltige Produkte), hatte nach eigenen Angaben eine Shopware-Lösung für über 100.000€ angepasst. Größere Unternehmen zahlen schnell Millionenbeträge für ihren Shop.
Um beim Beispiel Shopware zu bleiben (eine der verbreitesten Lösungen in Deutschland): Euronics, ein genossenschaftlicher Zusammenschluss von Elektronik-Läden, hat sich mit Shopware eine eigene Marktplatzlösung gebaut und dafür „Investitionen im siebenstelligen Bereich“ getätigt (siehe https://www.k5-liga.de/euronics-ein-marktplatz-gebaut-mit-shopware/ ). In diesem Fall geht es um eine Lösung für eine begrenzte, bereits vernetzte Gruppe von Händlern mit relativ ähnlichem Sortiment.
Shopware selbst (eine Softwarefirma, mit 16 Jahren spezialisierter Erfahrung im eCommerce) hat sich daran versucht, einen Breitenmarktplatz zu bauen. Unter dem Namen Bepado wollten sie ihre bereits existierende Vernetzungsplattform für Großhändler und Shopbetreiber zu einem Marktplatz für Endkonsumenten ausbauen: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Bepado-will-mit-Amazon-eBay-Co-konkurrieren-2190489.html
Nach anderthalb Jahren haben sie festgestellt, dass das Projekt zu komplex wird, und sind wieder zu ihrer Vernetzungsplattform zurückgekehrt: http://www.channelpartner.de/a/bepado-ist-tot-es-lebe-shopware-connect,3046370
In der Zeit, in der ich Bepado beobachtete, hatten sie auf ihrer Seite angegeben, dass 90 Entwickler daran arbeiten. Daran lässt sich ungefähr die Größenordnung der Kosten schätzen.
Nebennote: Wir sind dabei, mit Shopware Kontakt aufzunehmen, um zu sehen, ob sich irgendwelche Kooperationsmöglichkeiten ergeben. Falls sich jemand hierzu einbringen möchte, bitte vorher mit uns absprechen.
Die Investitionen in Dawanda, das in meinen Augen einzige deutsche Startup, dass in den letzten Jahren wirklich erfolgreich einen größeren Online-Marktplatz in den Markt gebracht hat, liegen in zweistelliger Millionenhöhe.
Zu den mir bekannten Alternativen:
Das Team von Fairmondo UK hatte letztes Jahr noch einmal eine relativ ausführliche Recherche (im englischsprachigen Raum) nach verfügbaren (open-source) Marktplatz-Lösungen vorgenommen. Neben unserer Software haben sie die in der oben erwähnte Lösung von Sharetribe als vielversprechend identifiziert. Sharetribe sitzt in Finnland und hat eine open-source Software für peer-to-peer-Marktplätze entwickelt. Man kann sie sich selbst installieren oder als Software-as-a-Service von Sharetribe hosten lassen. Mit ihrem ausgereiften CMS können sich auch nicht IT-ler mit relativ wenig Aufwand ihren eigenen Marktplatz zusammenklicken.
Der große Unterschied zu Fairmondo ist, dass ihre Zielgruppe die Betreiber kleiner Peer-to-Peer-Netzwerke sind. Entsprechend haben sie keine Lösung für den Massenupload und -aktualisierung großer Produktsortimente. Für Marktplätze mit größeren professionellen Händlern ist ihre Software deshalb ungeeignet. Das wissen die Leute von Sharetribe natürlich, diese Thematik ist ihnen aber auf absehbare Zeit zu groß. Für den Großteil ihrer Zielgruppe funktioniert ihre Lösung ja auch ziemlich gut. Für unsere Zielsetzung liegt aber gerade in diesem Thema, also die Verwaltung größerer Datenmengen, inkl. Schnittstellen zu anderen Shopsystemen, Warenwirtschaftssystemen, Datenformaten etc., die Hauptherausforderung.
Mit Juho, dem Gründer von Sharetribe bin ich seit einem Jahr in Kontakt, seit der Konferenz in New York im November auch befreundet. Sie teilen viele unserer Grundsätze und sehen sich als ein Unterstützer der Sharing Economy. Sie haben sich dafür entschieden, klassische Investoren an Bord zunehmen, denken aber darüber nach, wie sie auch in Richtung Genossenschaft gehen könnten. Dank ihrem Funding und ihrer guten Arbeit haben sie aktuell ein Team von 12 Entwicklern, dass ihre (ebenfalls Ruby on Rails basierten) Software stetig verbessert und erweitert.
Juho ist ein Fan von unserem Unternehmensmodell und sehr offen für Kooperation. Wir sind im offenen Gespräch darüber, inwiefern sich die Software von Fairmondo und Sharetribe mittelfristig verknüpfen lassen könnten, sodass z.B. Sharetribe-Nutzer ihre Produkte auch übergreifend über den Fairmondo Marktplatz anbieten können. So oder so wäre ein intensiver Austausch mit Sharetribe zu technischen Fragen sehr wünschenswert. Beides setzt allerdings voraus, dass wir auch bei Fairmondo wieder ein richtiges Entwicklerteam haben.
Fairmondo UK hat sich nun entschieden, nun zunächst einen kleinen Prototypen mit Sharetribe zu bauen, damit sie ihren potentiellen Partnern ein laufendes Produkt zeigen können. Sobald Partner an Bord sind und sie ernsthaft Ressourcen haben, möchten sie auf die Fairmondo-Software wechseln. An der Mitentwicklung wollen sie sich nach Möglichkeit aber auch schon unterwegs beteiligen.
Oben wurde auch Fairmarket genannt. Mit Fair.coop, der Organisation dahinter, sind wir seit zwei Jahren in Kontakt. Sie haben sich damals auch die Fairmondo-Software für ihre Marktplatz-Pläne angeschaut, der Anpassungsaufwand war ihnen aber zu groß (was definitiv stimmt). Letztlich haben sie nun eine auf einer belgischen Opensource-Unternehmenssoftware basierende Lösung gebaut. Auch ihre Software hat aber keine Lösung für Massenupload und die Verwaltung größerer Sortimente. Anfang März habe ich den Koordinator ihres Marktplatz-Projekts in Barcelona getroffen. Sie haben ebenfalls mit diversen Herausforderungen zu kämpfen und es sich noch einmal eine Nummer schwieriger gemacht, weil sie ausschließlich Handel über eine eigene Währung, Faircoin, zulassen. Insgesamt sind sie noch um einiges radikaler als wir (ja, das geht ;)) und haben auch keine grundsätzlichen Bedenken, teils gezielt die Grenzen der Legalität zu überschreiten. Darin unterscheidet sich unser Ansatz fundamental, was aber nicht bedeutet, dass wir nicht weiterhin schauen können, wo sich sinnvolle Synergien / Kooperationspunkte ergeben könnten.
Vor zwei Wochen habe ich auch die Gründer von Goodworks getroffen, die von Österreich aus einen Marktplatz für Produkte aus der Sozialwirtschaft aufbauen. Mit ihrem Hintergrund als Software-Agentur haben sie ihre Software auf Magento-Grundlage mit diversen Plugins gebaut. Auch sie haben aber keine Funktion zur Verwaltung großer Produktsortimente und stehen von vielen ähnlichen Herausforderungen wie wir. Auch mit ihnen gibt es konkrete Kooperationsideen.
Es gibt natürlich auch noch technische Neuerungen mit großem Potential, wie z.B. Blockchain, die momentan auf recht viel Begeisterung stößt. Ein Teammitglied von Fairmondo UK evaluiert im Rahmen seines Informatikstudiums, wie wir sie auch für Fairmondo nutzen können. Bei meinem Aufenthalt im Silicon-Valley im Januar habe ich auch mit Ethereum-Entwicklern geredet, die allerdings meinten, dass es noch mind. ein Jahr dauern wird, bis die Technologie weit genug ausgereift ist, um bei uns in praktische Anwendung zu gehen.
Zu unserem Ansatz:
Natürlich stand die Frage, ob wir eine eigene Lösung bauen, oder eine bestehende anpassen, am Anfang unseres Projekts. Ursprünglich hatte ich letzteres bevorzugt, bei meinen Recherchen in der Frühphase von Fairmondo (Fairnopoly) war ich aber auf einen Artikel zum Avocado-Store gestoßen, in dem sie erklärten, wie sie zunächst ein Jahr damit verbracht und über 50.000 Euro darein gesteckt hatten, eine bestehende Open-Source Lösung anzupassen, um sich dann zu entscheiden, doch eine eigene Lösung zu bauen. Ich dachte mir, evtl. macht es Sinn aus deren Fehlern zu lernen.
Als dann im Februar 2012 als erste Mitgründer zwei Informatikstudenten mit einstiegen (Andi und Tobi), die mir einen Plan vorlegten, bis zum Sommer eine erste Version entwickelt zu haben, dachte ich, ok, lasst uns das versuchen. Allerdings wollte ich möglichst schnell eine kompetente technische Leitung mit ins Boot holen, damit wir etwas fundiertes bauen. Nicht weniger als vier Leute haben sich bis November 2012 daran versucht, alle hatten sich mit geeigneten Lebensläufen als (unbezahlte) Mitgründer in Teilzeit beworben. Keiner von ihnen hat auch nur eine strukturierte Bedarfsaufstellung vorgelegt, geschweige denn die Prozesse richtig koordiniert. Die Koordination blieb weiter an mir hängen, neben einem Berg anderer Themen, der anvisierte Launchtermin verschob sich vom Sommer in den Winter.
Erst mit dem Einstieg von Anna als Vorstand und technische Leitung im Dezember 2012 nahm unsere Softwareentwicklung professionelle Form an. Nach dem erfolgreichen Crowdfunding Anfang 2012 hat Anna ein IT-Team aufgebaut, was für sich schon eine herausragende Leistung ist, denn für unser Einheitsgehalt von 2000 Euro Brutto in Berlin Railsentwickler zu finden ist nicht gerade leicht… Einige Leistungen haben wir extern eingekauft (Design, Security Audits etc.).
Im September 2013 sind wir mit einem sehr einfachen Marktplatz gestartet. Das Produkt war allerdings alles andere als dafür geeignet, den ursprünglich geplanten Kickstart hinzulegen. Wir mussten erstmal Schritt für Schritt weiter basteln. Eine Funktion, die wir gemeinsam mit unserem Mitglied Ecobookstore relativ früh angegangen sind, war die Verarbeitung großer Datenmengen und der CSV-Upload. Dieses Thema hat unser sehr kleines Team ein Jahr lang beschäftigt, bis es wirklich stabil lief, dafür haben wir jetzt die meines Wissens einzige Open-Source-Marktplatzsoftware, die das kann.
Viel Energie wurde 2014 in den Verkäuferübergreifenden-Warenkorb gesteckt. Dies war für mich eins der großen Schmerzthemen in der Fairmondo-Erfahrung, da in meinen Augen diese Funktion vor allem in Kombination mit der Einbindung eines eigenen Whitelabel-Payment-Systems einen wichtigen strategischen Schritt bedeutet hätte (Ermöglichung von Gutscheinen, Treuhandsystem, Spendenfunktion, diverse Erleichterungen für Händler, schnellerem Bezahlprozess etc.). Im September wurde mir dann aber mitgeteilt, dass die Einbindung vor Weihnachten entgegen der Planung nicht mehr schaffbar ist. Die Ende 2014 folgende Krise mit nahezu kompletten Wegfall unseres Entwicklungsteams ist bekannt (siehe sonst hier).
Zum bisherigen Stand seit Mai 2015
Seit dem wir keine technische Leitung und praktisch kein Entwicklungsteam mehr haben (abgesehen von Marc, der sich als bisheriger Frontendentwickler nun auch in die Railsentwicklung eingearbeitet hat und als unser einziger Entwickler Heroisches für die Aufrechhaltung des Marktplatzes und kleine Verbesserungen leistet), habe ich alle Vorschläge für größere Änderungen an der Software blockiert. Auch wenn nicht alle immer glücklich damit waren, war mir das Risiko einfach zu groß. Unsere Software ist mittlerweile sehr komplex und ohne ein Team, das die Weiterentwicklung in einem sauberen Prozess vornehmen und Probleme abfangen kann, wäre ein Totalausfall über längere Zeit nicht ausgeschlossen. Dies war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich gebremst und nicht die anderen mit meiner Ungeduld genervt habe…
Ich kann Frust vieler über die Software sehr, sehr gut verstehen. Für mich war der Entwicklungsprozess ein riesiger Lernprozess auch in Punkto Geduld. Kaum eine Idee, kaum eine strategische Maßnahme, die technische Funktionen erforderte, konnte entsprechend des Konzepts umgesetzt werden. Meist wurden die Prioritäten eher in Richtung stabile Standardfunktionen gesetzt.
Wie ich an anderer Stelle bereits geschrieben habe, ist Fairmondo meine erste Unternehmensgründung und das erste große Softwareprojekt, in dem ich involviert bin. Ich musste, wie viele andere im Team auch, viel auf dem Weg lernen und meine ursprüngliches Bild von der technischen Entwicklung stellte sich als ziemlich blauäugig heraus (zum Schmunzeln für Interessierte hier die erste „Feature Wunschliste“, die ich Andi und Tobi im Februar 2012 geschickt hatte: FairnopolyFeatureWunschliste_20120224.docx (9,4 KB)).
Nach 4,5 Jahren „in der Branche“ ist mir Rückblickend definitiv klar, dass wir einige Fehler gemacht haben, auch währendessen war ich mehrfach frustriert über unsere Entscheidungen. Doch natürlich habe ich sie mitgetragen und es wäre anmaßend jetzt zusagen, dass alles besser gelaufen wäre, wenn immer alles nach meinem Willen gegangen wäre. Und insgesamt sage ich immer noch, für die Mittel die wir hatten, sind wir erstaunlich weit gekommen und ich bin Stolz darauf, dass wir trotz aller Rückschläge bis heute durchgehalten haben.
Zur geplanten Weiterentwicklung
Mit der geplanten Crowdfundingkampagne möchten wir uns in die Position bringen, einige Konkrete Weiterentwicklungen anzugehen. Michael, unser neues Vorstandsmitglied, hat sich von Anfang an für eine klare Fokussierung auf Händlerfunktionen mit dem Ziel eines verbesserten Produktangebots ausgesprochen. Das Team und ich teilen seine Meinung, was sich auch in der Strategie 2016 wiederspiegelt, die Michael nächste Woche vorstellen wird.
Da aber praktisch alle wichtigeren Funktionen auf der Zusammenarbeit mit konkreten Partnern beruhen, ist es schwer, hier detaillierte Versprechungen zu machen, solange die Kooperationen noch nicht fertig ausgehandelt sind. Wichtige Punkte sind
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Verbesserung unserer generellen API, damit ein automatisierter Datenfluss mit externer Software einfacher wird (z.B. das Shopsystem eines Händlers, ein Produktbewertungsportal, ein Schnittstellenanbieter zu anderen Marktplatzformaten etc.)
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Entwicklung spezifischer Schnittstellen zu Systemen von konkreten Partnern. Es steht z.B. eine Kooperation mit einem Englischen Großhändler im Raum, dessen Einbindung sowohl Fairmondo UK als auch uns zugute käme.
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An der Verkaufsabwicklung gibt es viele kleine Dinge zu tun, basierend auf dem Feedback der letzten Jahre.
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Sofern es im Rahmen der Mittel möglich wird, wäre es in meinen Augen ein genialer Schritt, endlich das oben erwähnte Whitelabel-Bezahlsystem einzubinden. Wir könnten dann praktisch ein eigenes Bezahlsystem bieten und damit diverse Funktionen liefern. Für interessierte, hier der Link zu dem von mir favorisierten System (es gibt allerdings noch keine finale Entscheidung dafür): https://www.mangopay.com/
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Für die Internationalisierung der Software geht es zunächst vor allem darum, den Bedarf zu erfassen und ein Konzept zu erstellen. Darauf basierend lässt sich dann sehr viel besser identifizieren, was welche Partner übernehmen können.
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Zur Verbesserung unserer Einnahmen sind auch „Premium-Accounts“ für (höhere) monatliche Gebühren anvisiert, auch dafür möchten wir bestimmte Entwicklungen mit geeigneten Partnern angehen (z.B. integrierte Fulfillment-Leistungen für Händler, ein Konzept ist im entsehten).
Mir ist klar, dass dies nicht so konkret ist, wie sich das einige Wünschen, ich hoffe wir können in den nächsten Tagen/Wochen mehr ins Detail gehen.
Mein Beitrag ist nun erstmal wirklich lang genug, wieder in Hoffnung auf konstruktiven weiteren Austausch,
Felix